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 Brüderchen und Schwesterchen

Brüderchen und Schwesterchen

Zusammenfassung

Brüderchen und Schwesterchen fliehen vor ihrer grausamen Stiefmutter, einer Hexe, in den Wald. Der Bruder trinkt aus einem verzauberten Bach und verwandelt sich in ein Reh. Die Schwester pflegt ihn liebevoll, bis sie vom König entdeckt und zur Frau genommen wird. Die böse Stiefmutter versucht, die Königin zu töten, doch diese kehrt als Geist zurück, um ihr Kind zu stillen. Schließlich wird die Wahrheit enthüllt, die Hexe bestraft und der Bruder erlangt seine menschliche Gestalt zurück.

Text

Der kleine Bruder nahm seine kleine Schwester bei der Hand und sagte: »Seit unsere Mutter gestorben ist, haben wir kein Glück mehr. Unsere Stiefmutter schlägt uns jeden Tag, und wenn wir ihr zu nahe kommen, stößt sie uns mit dem Fuß weg. Unser Essen sind nur die harten Brotkrusten, die übrig bleiben. Und der kleine Hund unter dem Tisch hat es besser, denn sie wirft ihm oft ein Leckerli zu. Gott erbarme sich unser, wenn unsere Mutter das nur wüsste. Komm, wir wollen zusammen in die weite Welt hinausziehen.«
Sie gingen den ganzen Tag über Wiesen, Felder und steinige Plätze. Und als es regnete, sagte die kleine Schwester: »Himmel und unsere Herzen weinen zusammen.« Am Abend kamen sie in einen großen Wald, und sie waren so erschöpft von Kummer, Hunger und dem langen Weg, dass sie sich in einen hohlen Baum legten und einschliefen.
Am nächsten Tag, als sie erwachten, stand die Sonne schon hoch am Himmel und schien heiß in den Baum hinein. Da sagte der Bruder: »Schwester, ich habe Durst. Wenn ich nur ein Bächlein wüsste, würde ich hingehen und einen Schluck trinken. Ich glaube, ich höre eines rauschen.« Der Bruder stand auf, nahm die kleine Schwester bei der Hand, und sie machten sich auf die Suche nach dem Bächlein.
Aber die böse Stiefmutter war eine Hexe und hatte gesehen, wie die beiden Kinder fortgegangen waren. Heimlich war sie ihnen nachgeschlichen, wie Hexen es tun, und hatte alle Bäche im Wald verzaubert.
Als sie nun ein Bächlein fanden, das fröhlich über die Steine sprang, wollte der Bruder daraus trinken. Doch die Schwester hörte, wie es rauschte: »Wer aus mir trinkt, wird ein Tiger. Wer aus mir trinkt, wird ein Tiger.« Da rief die Schwester: »Ach, lieber Bruder, trink nicht, sonst verwandelst du dich in ein wildes Tier und zerreißt mich!« Der Bruder trank nicht, obwohl er großen Durst hatte, und sagte: »Ich werde auf die nächste Quelle warten.«
Als sie zum nächsten Bach kamen, hörte die Schwester, wie auch dieser sagte: »Wer aus mir trinkt, wird ein Wolf. Wer aus mir trinkt, wird ein Wolf.« Da rief die Schwester: »Ach, lieber Bruder, trink nicht, sonst wirst du ein Wolf und frisst mich!« Der Bruder trank nicht und sagte: »Ich warte, bis wir zur nächsten Quelle kommen, aber dann muss ich trinken, egal was du sagst. Mein Durst ist zu groß.«
Und als sie zum dritten Bach kamen, hörte die Schwester, wie er rauschte: »Wer aus mir trinkt, wird ein Reh. Wer aus mir trinkt, wird ein Reh.« Die Schwester sagte: »Ach, ich bitte dich, lieber Bruder, trink nicht, sonst wirst du ein Reh und läufst mir davon!« Doch der Bruder kniete sofort am Bach nieder, beugte sich hinunter und trank. Sobald die ersten Tropfen seine Lippen berührten, lag er dort in der Gestalt eines jungen Rehkitzes.
Nun weinte die Schwester über ihren verzauberten Bruder, und das kleine Reh weinte auch und setzte sich traurig neben sie. Schließlich sagte das Mädchen: »Sei still, liebes Rehlein, ich werde dich niemals, niemals verlassen.«
Dann löste sie ihr goldenes Strumpfband und legte es dem Rehkitz um den Hals. Sie pflückte Binsen und flocht sie zu einem weichen Strick. Diesen band sie dem Tierchen um und führte es mit sich, während sie tiefer und tiefer in den Wald hineinging.
Nach einem langen Weg kamen sie schließlich zu einem kleinen Häuschen. Das Mädchen schaute hinein, und da es leer war, dachte sie: »Hier können wir bleiben und leben.« Sie suchte Blätter und Moos, um dem Reh ein weiches Bett zu machen. Jeden Morgen ging sie hinaus und sammelte Wurzeln, Beeren und Nüsse für sich selbst und brachte zartes Gras für das Reh, das aus ihrer Hand fraß, zufrieden war und um sie herumspielte.
Abends, wenn die Schwester müde war und ihr Gebet gesprochen hatte, legte sie ihren Kopf auf den Rücken des Rehkitzes – das war ihr Kissen, und sie schlief sanft darauf. Und hätte der Bruder nur seine menschliche Gestalt behalten, wäre es ein herrliches Leben gewesen.
Eine Zeit lang lebten sie so allein in der Wildnis. Doch dann geschah es, dass der König des Landes eine große Jagd im Wald veranstaltete. Die Hörnerklänge, das Bellen der Hunde und die fröhlichen Rufe der Jäger hallten durch die Bäume, und das Rehkitz hörte alles und brannte darauf, dabei zu sein. »Ach«, sagte es zu seiner Schwester, »lass mich zur Jagd gehen, ich halte es nicht mehr aus!« Es bat so lange, bis sie schließlich einwilligte.
»Aber«, sagte sie zu ihm, »komm abends zu mir zurück. Ich muss meine Tür aus Angst vor den groben Jägern verschließen, also klopfe und sage: ›Meine kleine Schwester, lass mich herein‹, damit ich dich erkenne. Wenn du das nicht sagst, öffne ich nicht.« Da sprang das junge Rehkitz davon. So glücklich und fröhlich war es in der freien Luft.
Der König und die Jäger sahen das schöne Tier und setzten ihm nach, doch sie konnten es nicht fangen. Immer wenn sie dachten, sie hätten es sicher, sprang es durch die Büsche und verschwand. Als es dunkel wurde, lief es zur Hütte, klopfte und sagte: »Meine kleine Schwester, lass mich herein.« Da wurde ihm die Tür geöffnet, und er sprang hinein und ruhte sich die ganze Nacht auf seinem weichen Bett aus.
Am nächsten Tag begann die Jagd von Neuem, und als das Rehkitz wieder das Jagdhorn und die Rufe der Jäger hörte, hatte es keine Ruhe mehr und sagte: »Schwester, lass mich hinaus, ich muss fort!« Seine Schwester öffnete ihm die Tür und sagte: »Aber du musst heute Abend wieder hier sein und dein Passwort sagen.«
Als der König und seine Jäger das junge Rehkitz mit dem goldenen Halsband wieder sahen, jagten sie es erneut, aber es war zu schnell und flink für sie. Das dauerte den ganzen Tag, doch am Abend hatten die Jäger es umzingelt, und einer von ihnen verletzte es leicht am Fuß, sodass es hinkte und langsam lief. Ein Jäger schlich ihm zur Hütte nach und hörte, wie es sagte: »Meine kleine Schwester, lass mich herein«, und sah, dass die Tür geöffnet und sofort wieder geschlossen wurde.
Der Jäger merkte sich alles, ging zum König und erzählte ihm, was er gesehen und gehört hatte. Da sagte der König: »Morgen werden wir noch einmal jagen.«
Die kleine Schwester jedoch erschrak entsetzlich, als sie sah, dass ihr Rehkitz verletzt war. Sie wusch das Blut ab, legte Heilkräuter auf die Wunde und sagte: »Geh zu deinem Bett, liebes Reh, damit du wieder gesund wirst.« Doch die Wunde war so leicht, dass das Rehkitz am nächsten Morgen nichts mehr davon spürte. Und als es wieder die Jagdgeräusche hörte, sagte es: »Ich halte es nicht aus, ich muss dort sein! Sie sollen mich nicht so leicht fangen.«
Die Schwester weinte und sagte: »Diesmal werden sie dich töten, und ich bin hier allein im Wald und von aller Welt verlassen. Ich lasse dich nicht hinaus!« »Dann lässt du mich vor Kummer sterben«, antwortete das Reh. »Wenn ich die Jagdhörner höre, möchte ich aus meiner Haut fahren.« Da konnte die Schwester nicht anders und öffnete ihm mit schwerem Herzen die Tür, und das Rehkitz, voller Gesundheit und Freude, sprang in den Wald.
Als der König es sah, sagte er zu seinen Jägern: »Jagt es den ganzen Tag bis zum Einbruch der Nacht, aber passt auf, dass ihm niemand etwas zuleide tut.«
Sobald die Sonne untergegangen war, sagte der König zum Jäger: »Komm jetzt und zeig mir die Hütte im Wald.« Und als er an der Tür stand, klopfte er und rief: »Liebe kleine Schwester, lass mich herein!« Da öffnete sich die Tür, und der König trat ein, und dort stand ein Mädchen, schöner als alle, die er je gesehen hatte.
Das Mädchen erschrak, als sie nicht ihr kleines Reh, sondern einen Mann mit einer goldenen Krone auf dem Kopf eintreten sah. Doch der König blickte freundlich auf sie, streckte die Hand aus und sagte: »Willst du mit mir in meinen Palast kommen und meine liebe Frau sein?« »Ja, gerne«, antwortete das Mädchen, »aber das kleine Reh muss mit mir kommen, ich kann es nicht verlassen.« Der König sagte: »Es soll bei dir bleiben, solange du lebst, und es soll an nichts Mangel leiden.« In diesem Moment kam das Reh herein, und die Schwester band es wieder mit dem Binsenband, nahm es an die Hand und verließ mit dem König die Hütte.
Der König hob das schöne Mädchen auf sein Pferd und brachte es in seinen Palast, wo die Hochzeit mit großem Prunk gefeiert wurde. Nun war sie die Königin, und sie lebten lange glücklich zusammen. Das Rehkitz wurde gepflegt und umsorgt und lief im Schlossgarten umher.
Aber die böse Stiefmutter, wegen der die Kinder in die Welt hinausgezogen waren, hatte geglaubt, die Schwester sei von wilden Tieren im Wald zerrissen worden und der Bruder von den Jägern als Reh erschossen. Als sie nun hörte, dass es ihnen so gut ging und sie so glücklich waren, stiegen Neid und Eifersucht in ihr auf und ließen ihr keine Ruhe. Sie dachte nur daran, wie sie sie wieder ins Unglück stürzen könnte.
Ihre eigene Tochter, die hässlich wie die Nacht war und nur ein Auge hatte, warf ihr vor: »Eine Königin! Das hätte mein Glück sein sollen.« »Sei nur still«, antwortete die Alte und tröstete sie: »Wenn die Zeit kommt, bin ich bereit.«
Mit der Zeit gebar die Königin ein hübsches kleines Kind, und es geschah, dass der König auf der Jagd war. Da nahm die alte Hexe die Gestalt der Kammerzofe an, ging in das Zimmer, wo die Königin lag, und sagte zu ihr: »Komm, das Bad ist fertig. Es wird dir guttun und dir neue Kraft geben. Beeile dich, bevor es kalt wird.« Ihre Tochter war auch in der Nähe. So trugen sie die schwache Königin ins Badezimmer und setzten sie in die Wanne. Dann schlossen sie die Tür und liefen davon. Doch im Badezimmer hatten sie ein Feuer von höllischer Hitze gemacht, sodass die schöne junge Königin bald erstickte.
Als dies geschehen war, nahm die Alte ihre Tochter, setzte ihr eine Nachthaube auf und legte sie anstelle der Königin ins Bett. Sie gab ihr auch die Gestalt und das Aussehen der Königin, nur das fehlende Auge konnte sie nicht ersetzen. Damit der König es nicht sah, sollte sie auf der Seite liegen, wo sie kein Auge hatte.
Abends, als er nach Hause kam und hörte, dass er einen Sohn hatte, war er von Herzen froh und wollte zum Bett seiner lieben Frau gehen, um nach ihr zu sehen. Doch die Alte rief schnell: »Um Himmels willen, lass die Vorhänge geschlossen! Die Königin darf noch kein Licht sehen und muss sich ausruhen.« Der König ging weg und merkte nicht, dass eine falsche Königin im Bett lag.
Doch um Mitternacht, als alle schliefen, sah die Amme, die allein wach in der Kinderstube an der Wiege saß, wie die Tür aufging und die wahre Königin hereinkam. Sie nahm das Kind aus der Wiege, legte es auf ihren Arm und stillte es. Dann schüttelte sie sein Kissen auf, legte das Kind wieder hin und deckte es mit der kleinen Decke zu. Auch das Rehkitz vergaß sie nicht, ging zu der Ecke, wo es lag, und streichelte seinen Rücken. Dann ging sie wieder lautlos hinaus.
Am nächsten Morgen fragte die Amme die Wachen, ob jemand in der Nacht ins Schloss gekommen sei, aber sie antworteten: »Nein, wir haben niemanden gesehen.« So kam sie viele Nächte und sprach kein Wort. Die Amme sah sie immer, aber sie wagte nicht, jemandem davon zu erzählen.
Als einige Zeit so vergangen war, begann die Königin nachts zu sprechen und sagte:
»Wie geht’s meinem Kind, wie geht’s meinem Reh?
Zweimal noch komm ich, dann nimmermehr.«
Die Amme antwortete nicht, aber als die Königin wieder gegangen war, ging sie zum König und erzählte ihm alles. Der König sagte: »Ach, Gott! Was ist das? Morgen Nacht werde ich beim Kind wachen.« Abends ging er in die Kinderstube, und um Mitternacht erschien die Königin wieder und sagte:
»Wie geht’s meinem Kind, wie geht’s meinem Reh?
Einmal noch komm ich, dann nimmermehr.«
Und sie stillte das Kind, wie sie es früher getan hatte, bevor sie verschwand. Der König wagte nicht, sie anzusprechen, aber in der nächsten Nacht wachte er wieder. Da sagte sie:
»Wie geht’s meinem Kind, wie geht’s meinem Reh?
Diesmal komm ich, dann nimmermehr.«
Da konnte sich der König nicht mehr beherrschen. Er sprang auf sie zu und sagte: »Du kannst keine andere sein als meine liebe Frau!« Sie antwortete: »Ja, ich bin deine liebe Frau«, und in dem Augenblick erhielt sie ihr Leben zurück und wurde durch Gottes Gnade wieder frisch, rosig und gesund.
Dann erzählte sie dem König von der bösen Tat, die die Hexe und ihre Tochter an ihr begangen hatten. Der König ließ beide vor den Richter führen, und das Urteil wurde über sie gesprochen. Die Tochter wurde in den Wald gebracht, wo sie von wilden Tieren zerrissen wurde, aber die Hexe wurde ins Feuer geworfen und elend verbrannt. Und als sie zu Asche verbrannt war, verwandelte sich das Rehkitz zurück und erhielt seine menschliche Gestalt wieder. So lebten die Schwester und der Bruder glücklich bis an ihr Ende.